„Herzliche Grüße an alle“

Polina
6 min readJul 2, 2021

Fragen an Bilder und Botschaften des Voyager Golden Record

Kosmos / All rights reserved

Ich las heute einen Text für die Uni, in dem kurz die Bilder erwähnt wurden, die 1977 ins kosmische All von NASA geschickt wurden. Die Datenplatten mit Bildern, Musikstücken sowie 55 Grüßen in den meistverbreiteten irdischen Sprachen wurden als eine Grußbotschaft an die Aliens in die Unendlichkeit verschickt. Die Träger der Bilder und den Audio-Botschaften waren die sog. „interstellaren Raumsonden“, Raumflugkörper Voyager 1 und Voyager 2. Die Datenplatte, eine vergoldete Kupferscheibe, trägt daher den Namen „Voyager Golden Records“, der ebenso anspruchsvoll klingt wie seine Inhalte.

Diese goldene Visitenkarte der Menschheit wurde von NASA als eine Art Social Media Post ins Internet-All verschickt. Mit dem Musikhintergrund von Bach, Beethoven, Armstrong sowie „ethnischer Musik“ können sich die Aliens durch 116 schwarzweiße Bilder nicht nur unsere Gesellschaft zu dem damaligen Zeitpunkt, sondern die ganze Entstehungsgeschichte, unsere Genstrukturen, Körperbau, Flora und Fauna unseres zuhause-Planeten sowie unseren Fortschritt in seiner Detailliertheit ansehen. Der Sinn dahinter ist, das Interesse der Aliens für uns zu wecken und eine Botschaft zu schicken, die etwas viel mehr als „Herzliche Grüße an alle“ (die deutsche Grußbotschaft) über uns aussagt.

Einer Wikipedia-Liste mit der Kurzbeschreibung der Bilder kann man neben den physikalischen und chemischen Daten zu der Erde auch viele privatete Informationen entnehmen, u.a. dass wir, die Menschen, Kinder kriegen und sie zusammen mit Vater und Mutter (siehe das Bild mit das Kind stillenden Mutter und das Bild mit dem Vater, den ein Kind auf seinen Schultern trägt) aufwachsen. Das Bild einer vollen Familie ist vorhanden. Die Kinder sitzen dann im Kreis und lernen, von ihrer Familie und Natur umgeben: Die Bilder zeigen eine Küste mit Leuchtturm, Sanddünen, Wälder, Schneelandschaften… Delfine springen pittoresk über dem Wasser, ein Insekt fliegt zu der Blume, eine Baumkröte liegt chillig in einer menschlichen Hand. Die Pluralität der Nationen wird durch eine Tänzerin aus Bali, einen Mann aus Guatemala und einen Handwerker aus Thailand ausgedruckt. Die Sportlichkeit des Menschen zeigt sich durch die Aufnahmen von Athleten und Gymnastikerinnen aus. Auch Häuser und Städte sind repräsentiert: Oxford mit seinen gotischen Kirchenspitzen, Boston, der aus paar Hauskisten und einem Flusspanorama besteht, Sydney Opera Haus und sogar Taj Mahal sind dabei. Eine Frau mit Mikroskop oder eine Röntgenaufnahme sowie die Bilder von Astronauten und einem Raketenstart von NASA sollen die Aliens auf unsere Intelligenz hinweisen, denn wir sind das, die diese Botschaft ins Weltall verschickt haben.

Die letzten drei Bilder sind besonders spannend: Ein wunderschöner Sonnenuntergang mit dramatischer roter Sonne (wir erinnern uns aber, dass die Bilder als schwarzweiß kodiert sind), die sich im Meer abspiegelt, und die Vögel, die in einer Linie fliegen. Die Szene erinnert an den Kinderfilm „Lion King“. Die zwei letzten Bilder unterstreichen unseren Sinn für Kultur: Vier MusikerInnen (eine Frau und drei Männer) spielen ein Musikstück in einem schicken Wohnzimmer. Hinter Ihnen — schicke Bilder, unter ihren Füßen — ein Teppich mit orientalischem Muster. Die Männer haben Anzüge an, die Haare der Frau sind schön nach hinten gestylt, sie trägt ein schlichtes schwarzes Kleid. Das letzte Bild ist ein Notenblatt mit Cavatina von Beethoven und eine Violine.

Jetzt stellen wir uns vor, dass die Datenplatte in die Hände (oder Beine) der Aliens geraten ist — und sie hören sich die Cavatina an, die übrigens in Sankt-Petersburg geschrieben wurde. Dies ist der Höhepunkt des Werdegangs der Menschheit — der Genie, der durch Geburt, Familie, Lernen, mit Tieren spielen, Pluralität untermauert wird. (Es wäre sehr spannend, wenn das Bild von Mona Lisa als letztes Bild erscheinen würde. Die Malerei hat NASA wohl nicht so wie Musik gepriesen.)

Das Leben wie es ist: Oxford ist schön, Boston auch ganz okay, Familie macht Spaß, Beethoven hört jeder, Frauen mit Mikroskop, sportliche Jungs in Shorts, lernende Kinder, Mann aus Guatemala, Sonnenuntergang, Vogel, Wüste, Afrika. Erste Assoziation — Erde ist ein Paradies. Zweite Assoziation einer Frau, die auf der Erde wohnt, an einer Uni studiert und diesen Text schreibt fragt sich nun: Ist Erde wirklich ein Paradies?

Diese Bilder stehen für uns alle, obwohl wir nach 1977 geboren sind, denn keine neue Datenplatte wurde bisher angeschickt. Aber sind es wir, die in diesem Paradies aus 1977 leben?

NASA hat sich bewusst gegen die Bilder von Armut, Krankheiten, Kriegen, Religionen und Ideologien entschieden. Die Naturkatastrophen sind auch nicht in die goldene „Sammlung“ inkludiert worden, ob absichtlich oder nicht. An dieser Stelle stellt sich die Frage der Echtheit des ins All geschickten Bildes der Menschheit (Menschheit, nicht USA) und irgendwie auch die Frage nach der Ethik. Ich frage mich, ob sie nur die gute Seite des Fortschritts dargestellt haben, um gut auszusehen oder um die Absichten der Menschheit zu äußern, gut bzw. besser zu sein als wir waren? Spiegeln die Voyager Bilder unsere Vergangenheit oder eher unser Vorhaben? Und kann die Menschheit ohne Opfer, der Schwachen, der Armen und der Kranken überhaupt existieren? Gehört die dunkle Seite nicht zur Wahrheit? Warum können wir die satten, lernenden Kinder vor einem Globus aus Plastik präsentieren, aber nicht die armen Kindern in Afrika mit von Hunger aufgeblähten Bäuchen und dünnen Ärmchen? Wäre der Fortschritt jemals ohne Rückschläge wie die Kriege denkbar? Wäre Hiroshima ohne Fortschritt denkbar gewesen?

Viele Fragen tauchen auf. Je mehr Fragen auftauchen, desto mehr tritt die Lückenhaftigkeit des Gesamtbilder in Vordergrund. Und dann verwandelt sich das ins All geschickte Bild zu einem gephotoshopten Instragram-Profil, aus dem jegliche „negative“ Ereignisse absichtlich ausgelöscht wurden, um das Marketing-Bild der irdischen Menschen aufrecht zu erhalten. Komische Gefühle tauchen auf beim Gedanken, dass dieses Message noch mehrere Generationen lang die Grenzen der Universen überqueren wird. Eine Goldene Platte alleine im All mit dem Ziel, dass Alien-Interesse für Menschen zu welcken.

Der Kosmos ist immer traurig gewesen. Die Unendlichkeit — immer kalt. Und — wie komisch und traurig zugleich — wir, die Menschheit, suchen in dem Traurigen und Kalten nach jemandem oder etwas durch das beste Bild von uns selbst. Wir versuchen und photogen darzustellen, was mehr über uns sagt, als diese Datenplatte. Das Ganze ähnelt sich dem Tinder-Algorthytmus. Wir hoffen, dass die Aliens uns nach unseren pragmatisch-emotionalen Zusammensatz aus Genen, Familie, Fortschritt, Wissenschaft und Bach nach rechts wischen. Auch wenn wir längst nicht mehr da sind, brauchen wir dieses Interesse der Fremden, diese Anerkennung des Alls.

Die Sterne sind schön, wenn man sie mit einem Geliebten oder Geliebter, FreundInnen, Hund, Katze, Familie betrachtet. Wenn man einen Körper an seinen Körper presst und sich die Sterne zusammen ansieht. Aber wenn man sich alleine dem Sternenhimmel stellt, wechselt sich das Gefühl der Beeindruckung und Neugier nach zehn Minuten durch das Gefühl der kalten Unendlichkeit ab und dann will man zurück in sein warmes Wohnzimmer in Oxford.

Wartet jemand auf uns im All? Und wenn ja, würden wir ein anderes Bild von uns heute abschicken, wenn wir könnten? Und wenn ja, wäre nicht nur Boston, sondern die Obdachlosen von Boston, auch drauf? Irgendwie hoffe ich es. Selbst auf Instagram ändert sich die Einstellung schon. Warum dann nicht das Profilbild der Menschheit ändern und ein authentisches ohne Photoshop hochladen? So könnten wir vielleicht unsere historischen Fehler ein Stück anerkennen und sie überwinden anstatt sich mit Gold und Kupfer zu schminken und Visitenkarten in die Hände zu drücken, die noch nicht mal in unsere Richtung ausgestreckt sind.

Neun Bilder, die ich ins All schicken würde (eins davon ist oben):

Geschichte / All rights reserved
Traum / All rights reserved
Agrikultur / All rights reserved
Leben / All rights reserved
Kommunikation / All rights reserved
Fortschritt / All rights reserved
Schönheit / All rights reserved

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Polina

Durch das Schreiben die Welt in mir und um mich herum entdecken. Writing for me means exploring the world and myself through words.